14.09.2016

Wohnungsbau Genossenschaften

Wohnungsnot in Ballungszentren – Die Rolle der Genossenschaften

Ulrich Tokarski, Vorstandsvorsitzender, Volks-Bau- und Sparverein Frankfurt am Main eG
Ulrich Tokarski

„Solange Menschen die Erde bevölkern, haben sie sich, wenn es galt, wirtschaftliche oder andere Bedürfnisse zu befriedigen, und dies die Kräfte des Einzelnen überstieg, in Gruppen oder Gesellschaften zusammengeschlossen. Sich zu gegenseitiger Hilfe in einer Gemeinschaft zu verbinden, das ist der einfache Sinn des Genossenschaftsgedankens“. Diese prägnante Definition schreibt Helmut Faust in seiner „Geschichte der Genossenschaftsbewegung“ im Jahr 1965, und dies gilt bis heute.

Die Genossenschaft ist eine rund 150 Jahre alte Unternehmensform, die auf der Idee der Selbsthilfe basiert. Der Zusammenschluss erfolgte aus sozialen Gründen, oft aus der Not heraus. Die Gründung zahlreicher Wohnungsbaugenossenschaften Ende des 19. Jahrhunderts resultierte aus solch einer Notsituation: Im industrialisierten Deutschland herrschte ein ausgesprochenes Wohnelend. Jeder Quadratmeter eines Grundstücks wurde mit Hinterhäusern, Terrassenhäusern oder Werkstätten bebaut, ohne Rücksicht darauf, dass die Bewohner in dunklen, feuchten, verschimmelten und ungesunden Wohnungen hausen mussten. Und dies betraf große Teile der Mittelschicht, in der Arbeiterschaft herrschten noch weitaus schlimmere Zustände. Die frühe Genossenschaftsbewegung in den 1870er Jahren war gegenüber den gemeinnützigen Kapitalgesellschaften jedoch deutlich benachteiligt, denn im damaligen Gesetz hafteten die Mitglieder in unbeschränkter Höhe. Dies änderte sich erst 1890, als der junge Kaiser Wilhelm II. die Sozialistengesetze abschaffte und ein neues Genossenschaftsgesetz in Kraft setzte, in dem nur noch von „beschränkter Haftung“ die Rede war. Im schlimmsten Fall verloren die Mitglieder also ihre Einlagen – nicht schön, aber überschaubar. Damit gewann die Genossenschaftsidee unter den Arbeitern, kleinen Angestellten und Handwerkern deutlich an Attraktivität. Dieses Gesetz ist im Wesentlichen bis heute das „Grundgesetz der Genossenschaften“.

Aktuell sind die Wohnungsbaugenossenschaften ein wichtiger Bestandteil der Wohnungswirtschaft in Deutschland. Mit ihren rund 2,2 Mio. Wohnungen bieten die 2.000 Wohnungsgenossenschaften für mehr als 5 Mio. Menschen bezahlbares und sicheres Wohnen. Der Anteil am Mietwohnungsbestand beträgt knapp 10 Prozent bundesweit. Knapp 3 Mio. Menschen sind Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft. Sie haben für 3,3 Mrd. Euro Geschäftsanteile gezeichnet. Das Investitionsvolumen der Wohnungsgenossenschaften beläuft sich aktuell auf rund 3,4 Mrd. Euro pro Jahr. Diese Summe bewirkt vielfältige Folgeinvestitionen und sichert in erheblichem Maße Arbeitsplätze.

Wie funktioniert eine Wohnungsbaugenossenschaft? Das Prinzip ist einfach: Die Mitglieder sind sowohl Eigentümer als auch Nutzer des Unternehmens, denn sie beteiligen sich mit Geschäftsanteilen an der Genossenschaft. So kommt diese zu Kapital und wird handlungsfähig. Es können nun Wohnungen gebaut und an die Mitglieder zur Nutzung vermietet werden. Genossenschaften sind nicht auf die Erzielung von Profiten ausgelegt, sondern stellen erwirtschaftete Überschüsse wieder direkt den Mitgliedern zur Verfügung, sei es durch Modernisierungen oder der Verbesserung des Wohnumfeldes in den Liegenschaften oder dem Angebot von sozialen Dienstleistungen wie betreutes Wohnen für ältere oder behinderte Menschen, Einkaufshilfen, Kindergärten und Spielplätze, Angebote für junge Familien mit Kindern, Nachbarschaftstreffs oder Mitgliederfesten und der Förderung von alternativen Wohnkonzepten wie Mehrgenerationenhäusern oder Wohngruppen. So weit, so gut.

Das Besondere am Genossenschaftsmodell erschließt sich aber erst auf den zweiten Blick:
Zum einen resultiert aus der Tatsache, dass die Mitglieder sowohl Kapitalgeber als auch Nutzer sind, eine ganz andere Identifikation mit dem Quartier und der Genossenschaft, als dies bei „normalen“ Mietern der Fall ist. Zum anderen können die Mitglieder als Miteigentümer direkten Einfluss auf die Entwicklung der Genossenschaft und die Gestaltung der Bestände nehmen und das Leben in ihrer direkten Umgebung mitgestalten. Darüber hinaus genießen die Mitglieder lebenslanges Wohnrecht. Damit ist genossenschaftliches Wohnen flexibel wie Miete und sicher wie Eigentum. Und die Begriffe Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung gehören weiterhin zu den unveränderlichen Grundprinzipien.

Wie wichtig genossenschaftliches Wohnen in Ballungsräumen ist, zeigt das Beispiel Frankfurt am Main. Die Situation auf dem Frankfurter Wohnungsmarkt hat sich in den letzten Jahren insbesondere für Bürger mit mittlerem Einkommen weiter verschärft. Seit dem Jahr 2000 ist die Einwohnerzahl Frankfurts um 13 Prozent angestiegen und weiterer Zuzug ist aufgrund der Attraktivität urbanen Lebens und dem Angebot an Arbeitsplätzen zu erwarten. Die Mietpreise steigen konstant. So wird im Mietspiegel 2014 eine um 16 Prozent höhere Durchschnittsmiete als noch 2008 ausgewiesen. Und diese wird auch in Zukunft weiter steigen, denn aktuellen Schätzungen zufolge fehlen alleine in Frankfurt rund 20.000 Wohneinheiten. So ist die Formel „ein Drittel des verfügbaren Einkommens für die Miete“ längst außer Kraft gesetzt.

Dabei gibt es durchaus Alternativen zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums, die bereits 2006 in einem Beschluss der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung festgelegt wurde, nämlich 15% der städtischen Neubauflächen für Genossenschaften und Wohngruppen vorzuhalten. Dies macht mit Blick auf die Mieten durchaus Sinn: 2014 z.B. lag die Durchschnittsmiete in genossenschaftlichen Wohnungen bei 5,95 €/m², der offizielle Mietspiegel spricht von 8,66 €/m², nach Schätzung des IHK-Wohnungsmarktberichtes lag die Durchschnittsmiete in Frankfurt in diesem Jahr sogar bei 10,13 €/m². Leider wird dieser richtungsweisende Beschluss der Stadtverordneten in der Realität seit nunmehr fast zehn Jahren nahezu ignoriert.

Um sich diesen Herausforderungen besser stellen zu können und sich gegenüber der Politik stärkeres Gehör zu verschaffen, haben 2014 die sieben größten Frankfurter Wohnungsgenossenschaften die „Kooperation Frankfurter Wohnungsbau-Genossenschaften“ ins Leben gerufen. Die Kooperationsmitglieder vertreten 10.000 Wohnungen und 15.000 Mitglieder im Stadtgebiet Frankfurt. Von 2010 bis 2014 wurden 137 Mio. Euro in die ca. 590.000 m² Wohnfläche im Zuge von Modernisierung, Sanierung und Neubau investiert. Vergleicht man die Rolle der Frankfurter Wohnungsgenossenschaften mit anderen deutschen Großstädten, ist noch deutliches Wachstumspotential vorhanden. So ist z.B. der Anteil genossenschaftlicher Wohnungen in Berlin über dreimal so hoch.

Die Mitglieder- und damit auch die Mieterstruktur ist ein Abbild der Stadtgesellschaft. Es gibt sowohl „Besserverdienende“ als auch einkommensschwache Gruppen in den Genossenschaften. Im Prinzip sind alle Schichten der Gesellschaft willkommen. Die primäre Zielgruppe stellt jedoch die Mittelschicht dar, deren Einkommen sie nicht für Sozialwohnungen in Frage kommen lässt, das aber auch für die hohen Mieten in Frankfurt oft nicht ausreicht. Die klassischen Beispiele hierfür sind Facharbeiter, Krankenschwestern und Polizisten. Für eine gesunde Stadtentwicklung und eine homogene Gemeinschaft ist es wichtig, dass alle Schichten der Gesellschaft die Möglichkeit haben, in der Stadt leben zu können. Wohnungsgenossenschaften können dies aufgrund des Fehlens der reinen Renditeorientierung darstellen: Bezahlbare Mieten deutlich unterhalb der Marktmieten. Die stetig wachsende Altersarmut in Ballungsräumen ist ein weiteres Kriterium: Das lebenslange Wohnrecht garantiert, dass man auch mit einer Durchschnittsrente in der Stadt wohnen bleiben kann. Auch das Thema Sicherheit spielt bei den Überlegungen eine wichtige Rolle. Die Praxis zeigt deutlich, dass aufgrund der gewachsenen Siedlungsstrukturen und des genossenschaftlich-nachbarschaftlichen Miteinanders keine sozialen Brennpunkte entstehen. Diese „Sozialrendite“ wird bei der Vergabe von Baugrund durch die öffentliche Hand häufig völlig außer Acht gelassen. Denn die Allgemeinheit spart nachhaltig Aufwendungen für spätere Resozialisierungsmaßnahmen.

Genossenschaftliches Bauen ist sicher kein Allheilmittel für fehlenden Wohnraum, wird aber in seiner Bedeutung unterschätzt. Die Mitglieder der Kooperation könnten bei den entsprechenden Rahmenbedingungen in den nächsten 5-6 Jahren alleine 500 neue Wohnungen im Ballungsraum Frankfurt schaffen. Daher fordern die Frankfurter Wohnungsbaugenossenschaften von der Stadt die im Stadtverordnetenbeschluss festgelegten 15 Prozent der Neubauflächen für genossenschaftliches Wohnen ein. Darüber hinaus sollte die Stadt einen Teil der zu vergebenden Grundstücke zum Verkehrswert z.B. an die Genossenschaften geben, um bezahlbaren Wohnraum entstehen zu lassen und den Nutzen aus der Sozialrendite zu ziehen. Üblich ist aber das Höchstbieterverfahren, bei dem die Genossenschaften naturgemäß nicht mithalten können. Auch eine aktivere Einbindung in die Stadtplanung wäre sinnvoll. Die Politik muss endlich feststellen, dass Städte für Bürger und nicht für Investoren geschaffen werden. Und mehr Bürgernähe als bei Genossenschaften gibt es aufgrund der basisdemokratischen Strukturen kaum.

Auch auf die sich verändernden Anforderungen der Gesellschaft an modernes und alternatives Wohnen haben die Genossenschaften bereits reagiert. So haben im November vergangenen Jahres das Netzwerk Frankfurt für gemeinschaftliches Wohnen e.V. und die Kooperation der Frankfurter Wohnungsbaugenossenschaften eine Zusammenarbeit beschlossen mit dem Ziel, dass künftig mehr gemeinschaftliche und genossenschaftliche Wohnprojekte verwirklicht werden. Immer mehr Wohngruppen bilden sich, aber es finden sich kaum Chancen zur Umsetzung. Andere deutsche und internationale Städte wie Hamburg, Tübingen und Zürich haben im Zuge einer qualitätsvollen, stabilen und sozialverträglichen Stadtentwicklung ihre Liegenschaftspolitik bereits verändert und fördern alternative Lebensräume deutlich stärker.

Um solche Projekte allerdings umsetzen zu können, haben beide Partner eine zentrale Forderung an das neue Stadtparlament,denn es liegen zahlreiche Anfragen von Wohngruppen vor. Nun muss endlich auf die sich verändernden Anforderungen der Gesellschaft und der Bürger reagiert werden. Für die konkrete Umsetzung zukunftsweisender Projekte fehlt potentielles Bauland zum Verkehrswert. Hier müssen von der Politik, insbesondere auch bei der Entwicklung neuer Baugebiete, entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es ermöglichen, Gelegenheiten zu nutzen und bei den Vergabeverfahren entsprechend des Stadtverordnetenbeschlusses auch berücksichtigt zu werden.

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von Volks-Bau- und Sparverein Frankfurt am Main eG
Erstveröffentlichung: Mai 2016, Immobilien &. Finanzierung