25.06.2015

Chancen zur Ortskernbelebung

Wie Gemeinden und Mittelstädte der Verödung entgegenwirken können

Mag. arch. MAS MBA Roland Gruber, Gründer, Partner, Geschäftsführer, nonconform zt gmbh
Mag. arch. MAS MBA Roland Gruber

Landflucht, Zunahme des Altersdurchschnitts, Verödung von Zentren und Rückgang des Einzelhandels sind Probleme, mit denen sich heute viele Gemeinden und Mittelstädte konfrontiert sehen. In Folge dessen sinkt die Gesamtattraktivität, und als Konsequenz bleibt der Zuzug von Menschen und Unternehmen aus. Ein Teufelskreis?

Nein, wenn Entscheider nicht den „Kopf in den Sand stecken“ und sich ihrem ländlichen Schicksal nicht ergeben. Durch kreative, partizipative und nach vorne gerichtete Ideen können sich Mittelzentren und Gemeinden durchaus gegen Nachbargemeinden und Städte behaupten und neue Akzente setzen.

Dabei gibt es allerdings kein Patentrezept für Strategien zur Ortskernbelebung. Jeder Ort ist etwas Besonderes. Für jeden einzelnen Ort gilt es, eigene, ganz spezielle Lösungen zu entwickeln und in Projekte zu investieren, um den Ortskern vor der Verödung zu bewahren und nachhaltig zu neuem Leben zu erwecken. Damit eine Ortskernbelebung gelingt, müssen Raumplanung und ansprechende Baukultur Hand in Hand gehen.

Bürgerbeteiligung erhöht die Akzeptanz der Raumplanung

Neben klassischen gestalterischen Bauaufgaben müssen zunächst im Rahmen der Raumplanung vermehrt Fragen zur generellen Ortskern- oder Zentrumsentwicklung und -belebung beantwortet werden: „Wie gehen wir mit dem Leerstand um?“, „Was können wir mit vorhandenen baulichen Schätzen tun?“ und „Was ist das Besondere unseres Ortes?“.

Ein wesentliches Kriterium für eine zukunftsfähige Entwicklung ist die intensive Einbeziehung der Bürger – nicht nur in den Planungsprozess, sondern in die Projektentwicklung. Sie kennen ihre Gemeinde oder Stadt am besten und haben oftmals gute, zukunftsweisende Ideen, die eine wesentliche Basis für nachhaltige Lösungen und breite Akzeptanz vor Ort sind. Die eingebrachten Anregungen der Bürger müssen wertschätzend aufgenommen, interpretiert, analysiert und fachlich auf Umsetzbarkeit geprüft werden. Damit steht der Planungsprozess vor einer großen Herausforderung. Die Aufgaben des Architekten als Objektplaner und die des Raum- und Städteplaners als Verfasser von Flächenwidmungsplänen und die Entwicklung multifunktionaler Gebäude und Plätze werden um die Tätigkeit des Stimulators, Moderators, Ideensammlers und Ideentransformators sowie des Kommunikators im Vorfeld von konkreten Aufgaben erweitert.

Die Ideenfindung soll dabei transparent, prozesshaft und gemeinschaftlich erfolgen. Sie muss kurzweilig, spannend und offen sein, damit in jeder Phase eingegriffen und mitgewirkt werden kann. Dies fördert das Vertrauen, die Akzeptanz und die Identifikation mit der künftigen räumlichen Lösung für einen Ort. Die so entstandene, nachhaltig wirkende Planung basiert zudem auf der Zusammenarbeit mit Experten aus unterschiedlichen Disziplinen wie zum Beispiel Stadt- und Raumplanern, Architekten, Verkehrsgutachtern sowie Handels- und Tourismusspezialisten. Zu beachten ist, dass es niemals nur eine einzige, sondern immer mehrere mögliche Lösungen gibt. Wenn es gelingt, eine Bandbreite an Szenarien aufzuzeigen, ist es möglich daraus eine gemeinsame und langfristig akzeptierte Entscheidung für eine realisierbare Lösung zu finden. Und realisierbar muss diese Idee sein, denn nur umgesetzte Beispiele bringen neue Dynamik für die weitere Entwicklung. Generell gesagt: Es geht darum, nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern den schönsten, den attraktivsten, den spannendsten gemeinsamen Nenner zu finden und ihn in der Folge umzusetzen.

Bedeutung von „Baukultur“ bei der Umsetzungsplanung

Wenn es etwas gibt, das als Indikator und gleichzeitig auch als Nährboden für eine positive, zukunftstaugliche Entwicklung von Gemeinden und Städten herangezogen werden kann, dann ist dies „Baukultur“. Denn Baukultur-Aspekte bilden bei der konkreten Umsetzung der räumlichen Zukunft eins Ortskerns neben der multifunktionalen Nutzbarkeit von Immobilien ein fundamentales Gewicht.

Baukultur besteht nicht nur aus erfüllten Bauaufgaben, also der Bereitstellung von Gebäuden, sondern aus einer Vielzahl von Faktoren, die unseren Lebensraum in seiner Qualität massiv beeinflussen können. Neben der aus Menschenhand erschaffenen Umwelt mit Gebäuden, Brücken, Straßen und Tunneln sowie deren Architektursprache schließt dieser Begriff auch den Umgang damit ein. Das Thema betrifft nicht nur die professionellen Planer, sondern alle Menschen, die mit der gebauten Umwelt konfrontiert werden. Auch die Verantwortung für die Qualität liegt nicht allein bei den Fachleuten, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es braucht daher eine Kultur des Bauens, die die Menschen mit ihren Bedürfnissen ebenso in den Bauprozess einbezieht, wie Planer oder die unterschiedlichen Entscheidungsträger auf Seiten von Politik, Verwaltung, Unternehmen und Investoren. Es braucht eine Kultur, die in Zusammenhängen denkt und die positive Entwicklung einer Gemeinde oder Stadt als Ganzes in den Fokus rückt. Damit wird durch die Berücksichtigung von baukulturellen Aspekten die Stadtentwicklung zu einer intelligent vernetzten, also „smarten“, Stadtentwicklung.

Funktionsvielfalt belebt Stadträume und stärkt die Attraktivität von Gebäuden

Mit jeder Bauaufgabe, mit jedem gestalterischen Eingriff in einer Gemeinde oder einer Stadt eröffnet sich eine Reihe von Chancen, die es von den Verantwortlichen aller Ebenen – Politiker, Verwaltung, Unternehmen aber auch Privatpersonen – wahrzunehmen gilt. Dabei geht es um soziale, ökonomische, ökologische und gestalterische Aspekte ebenso wie um Lebensqualität, die Organisation von Verkehr oder das Image eines Ortes. Je mehr dieser Ansprüche im Ortszentrum erfüllt werden können, desto mehr Menschen werden das Angebot nutzen. Neben einer ansprechenden Architektur im Sinne bester „Baukultur“ werden Plätze und Gebäude umso mehr aufgesucht und genutzt, je mehr ergänzende und atmosphärevolle Funktionen sie vereinen.

Die Frequenz wird steigen, wenn unterschiedliche Bedürfnisse in einem Gebäude vereint werden. An einem konkreten Beispiel festgemacht: Wenn ein Rathaus nicht mehr nur Amtshaus, sondern gleichzeitig Jugendtreff, Versammlungsort für Bürger, Postanlaufstelle, Tourismusinformation, der Stadtratssitzungssaal ein multifunktionaler Raum für Bürgerveranstaltungen, aber Standort für den wöchentlich stattfindenden Markt sowie ein fußläufig erschlossener Bereich mit hoher Aufenthaltsqualität ist, dann ist man dem Ideal schon sehr nahe.

Es leuchtet ein, dass klare räumliche Funktionstrennungen die Belebung eines Raumes oder Gebäudes behindern, die Funktionszusammenlegung dagegen zur Belebung und Attraktivitätssteigerung beiträgt. Dies ist eine Lösung, mit der einzelne attraktionsarme Räume zu einem integrierten attraktionsfördernden Ort verbunden werden können.

Strukturierte Planung und neue Formen der Moderation sind Schlüssel zum Erfolg

Jede Neu- oder Weiterentwicklung in einem Ort – und dazu gehört auch die gezielte Belebung des Zentrums – ist meist mit der Errichtung oder Sanierung von Gebäuden verbunden. Sowohl die Entwicklung eines Platzes, als auch der Bau bzw. die Sanierung eines Gebäudes sind bei genauer Betrachtung und gewissenhafter Umsetzung komplexe Prozesse, deren Gelingen ein gut abgestimmtes Ineinandergreifen zahlreicher Akteure erfordert. Wenn daher die Planung in Abstimmung mit Politik, Verwaltung, Unternehmen, Vereinen, Bürgern, der Jugend und Fachexperten erfolgt, sollte das Fundament für eine nachhaltig positiv wirkende Belebung von Gebäuden und Orten gelegt sein.

Erfolgreich werden derartige Projekte in der Regel dann, wenn sie strukturiert, kommunikativ und partizipativ vorbereitet, durchgeführt und längfristig auch begleitet werden. Die Steuerung des Gesamtprozesses sollte dabei bei einem externen Moderator erfolgen, der städteplanerisches Fachwissen und Moderationskompetenz vereint, da er frei von politischen Zwängen und persönlichen regionalen Netzwerken neutral und lösungsorientiert agieren kann. Dabei bilden die folgenden sieben Meilensteine einen guten Leitfaden des Handelns:

  1. Externe Beratung einsetzen: Unabhängige Stadtplaner und Architekten beraten in Entwicklungs-, Planungs- sowie Gestaltungsfragen und erleichtern die Argumentationen in baulichen Fragen. Fehler können vermieden, Vorgaben aus einem Ortsentwicklungskonzept leichter umgesetzt werden.
  2. Gemeinsam Ideen sammeln: Eine professionelle Ideenfindung für Zukunftsprojekte in Form einer vor Ort stattfindenden Ideenwerkstatt unter Beteiligung von Bürgern sowie Exkursionen zu Vorzeigeprojekten mit dem Treffen der Protagonisten wecken den Willen zur Mitgestaltung sowie Mut für Veränderung und führen die Umsetzbarkeit von Visionen vor Augen.
  3. Fachliche Vorstudie erstellen: Nach Formulierung der ersten Ideen und Wünsche aus der Ideenwerkstatt bedarf es einer gewissenhaften Projektvorbereitung in Form einer Machbarkeitsstudie sowie eines Raum- und Funktionsprogramms. Auf dieser Basis gilt es, die Finanzierung zu sichern.
  4. Innovative Wettbewerbe durchführen: Auf Basis der Machbarkeitsstudie empfiehlt es sich, einen Planerwettbewerb auszuschreiben. Die verschiedenen Beiträge unterstützen die Gemeinde in der Entscheidungsfindung.
  5. Besondere Siegerprojekte umsetzen: Die besten Ideen sollten Realität werden – auch gegen Widerstände. Hier ist Rückgrat der handelnden Personen in Verwaltung und Politik notwendig. Nicht der kleinsten gemeinsamen Nenner sondern nur der spannendsten Nenner bringt Zukunft!
  6. Die Baustelle öffnen: Mit interessanten Baustellenfesten, Hintergrundinformationen und Führungen bekommen die Menschen mehr Beziehung zum Projekt und auch zu den Menschen, die für die Errichtung zuständig ist.
  7. Die Fertigstellung zelebrieren: Es muss ein WIR-Fest werden. Die offenen Türen zeigen alle Möglichkeiten, das Gebäude / den Platz zu nutzen. Das steigert von Beginn an die Akzeptanz und schafft neue Nutzungsräume.

Historisch geprägte Verknüpfung von Arbeiten und Wohnen wird wieder aktuell und eröffnet Gemeinden und Städte Chancen zur Attraktivitätssteigerung

Eine konkrete Antwort auf viele der Ortskernfragen ist die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten – das Lebensmodell aus unserer Geschichte. Erst die zunehmende Mobilität ermöglichte die Funktionstrennung und brachte uns die monotonen Industrie- und Siedlungsgebiete, wo nur gewohnt oder gearbeitet wird und Orte, wo wir einkaufen gehen oder die Freizeit verbringen. Für den Weg dazwischen ist meist das Auto unabkömmlich. Das zeigt sich daran, dass in der Früh alle gleichzeitig im Stau in die eine Richtung und am Abend in die andere Richtung stehen, ebenso am Wochenende, wenn alle gleichzeitig einkaufen fahren oder ins Grüne möchten. Mit der technologischen Möglichkeit des „überall Arbeitens“ bricht aber auch eine neue Zeitepoche des Lebens an, in der das Arbeiten wieder mit dem Wohnen kombiniert werden kann. Und genau dafür bilden Zentrumslagen in unseren Dörfern und Städten eine gute Voraussetzung.

Diese Chance sollten Gemeinden und Städte für sich nutzen.

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von nonconform zt gmbh
Erstveröffentlichung: The Property Post, Juni 2015