Wie die große Urbanisierung unser Leben verändert
Im Jahre 2050 wird der überwiegende Prozentsatz der Menschheit in Städten leben. Doch was bedeutet diese Entwicklung für die Ökologie, für den humanen Lebensraum, für die Kultur? Ist das „Zusammenrücken“ der Menschheit der Sieg von Anonymität und Vermassung? Ein neuer Blick auf das Urbane enthüllt ein völlig anderes Bild: Städte sind der URSPRUNG von Kultur, Differenzierung, Individualisierung. Sie EVOLUTIONIEREN in vielfältiger Weise – und zeigen dabei, wohin sich die Menschheit entwickeln kann.
Die schnell wachsenden MEGACITIES der Schwellenländer prägen heute unser negatives Bild großer Städte. Doch auch dort findet neues „Urban Design” statt. In den Steinwüsten von Sao Paolo, Manila oder Kalkutta experimentiert eine neue Generation von global ausgebildeten Stadtplanern mit neuen Methoden urbaner Transformation. In China und den arabischen Ländern entstehen heute grüne Zukunfts-Städte, die ihre Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen beziehen. Eine neue Bürgermeister-Bewegung versucht, die Evolution der Stadt voranzutreiben – mit teils spektakulären, ungewöhnlichen Methoden.
Wie kommt es, dass die große Stadt einen so schlechten Ruf hat – bei einer derart ungebrochenen Anziehungskraft? Seit dem Jahr 2006 leben zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Die UN schätzt, dass die 60-Prozent Marke schon im Jahr 2020 überschritten wird. Und Mitte des 21. Jahrhunderts 75 Prozent der Erdbewohner Städter sind. Und dieser Trend hält an.
Man könnte dies einfach auf Nöte und Zwänge zurückführen. Auf dem Land gibt es eben keine Arbeit, kein Auskommen und große Not. Für die noch unteragrarisierten Regionen Afrikas mag das gelten. Aber wir verstehen das Wesen der urbanen Evolution nicht, wenn wir nicht auch die FASZINATION der großen Stadt wahrnehmen, ihre magische Wirkung auf die menschliche Seele. Wie eng, laut und verschmutzt die Siedlungsräume des Menschen auch sein mögen – die Sehnsucht nach Komplexität, Entfaltung, Individualität – und Freiheit spiegelt sich im Städtischen wider. Städte bringen auf vielfältige Weise die Welt zum Leuchten. Umweltschutz, Glück, Gesundheit Städte galten immer als Speerspitze der Vergeudung, der Umweltverschmutzung und des Energieverbrauchs. Müllberge, Smog und Krankheiten sind ihr Markenzeichen.
Doch Städte entlasten unterm Strich die natürliche Umwelt, denn sie konzentrieren den Siedlungsraum und lassen auf diese Weise mehr Platz für Natur. Wenn wir alle Ballungsgebiete der Erde auf der bewohnbaren Erdmasse räumlich zusammenrücken, sind heute nur 3,5 Prozent der Erdoberfläche dicht bewohnt. Wenn wir die Menschen noch dazurechnen, die bis zum globalen Bevölkerungszenit im Jahr 2050 bis 2060 dazukommen, und sie ALLE in Städte ziehen lassen, werden kaum mehr als 4,5 Prozent der bewohnbaren Landfläche der Erde bewohnt sein. Das lässt enorme Raumreserven für Landwirtschaft, aber auch für Naturreservate und Biosphärenprojekte.
Städte verbrauchen weniger Energie und erzeugen weniger CO2 pro Bewohner als das flache Land – jedenfalls dann, wenn es sich um verdichtete, gewachsene Städte mit einem Kern mit hoher Bevölkerungsdichte handelt. Dies liegt unter anderem an der deutlich geringeren Kilometerzahl, die Stadtbewohner mit dem Auto zurücklegen. Der Benzinverbrauch sinkt mit der Dichte der Bevölkerung, was mit der beginnenden Elektromobilisierung weitere Skaleneffekte bringen dürfte.
Stadtbewohner sind im Schnitt GLÜCKLICHER und GESÜNDER als Landbewohner. Und sie haben eine deutlich geringere Geburtenrate. In einer afrikanischen Stadt wie Addis Abeba ist die Geburtenrate schon so niedrig wie im europäischen Schnitt (unter zwei Kinder pro Frau), ebenso in Dhaka oder zum Teil in den indischen Großstädten. Auf indirekte Weise lösen Städte also das Problem der „Bevölkerungsexplosion“.
Entscheidend für die neue Prosperität des Urbanen sind die „Drei T´s” und die „Drei K’s“. Kreative Städte ziehen Gebildete an, die Vielfalt und Inspiration suchen. Dabei kommen die „drei T’s“ zum Zuge: Toleranz, Technologie, Talente. Es entsteht ein Milieu der gebildeten Weltoffenheit – Kreative Städte betrachten ihre Minderheiten nicht als soziales Problemfeld, sondern als Vielfalts-Kapital. Der Zuzug der „Kreativen Klasse“ zieht wiederum die Vermehrung von Kultur, Kunst und Kulinarik nach sich.
In Kreativen Städten blüht ein neues urbanes Design, das Elemente aller Epochen, von der mittelalterlichen Marktstadt bis zur Bauhaus-Gartenstadt, neu kombiniert. Innenstädte sind nicht mehr nur Vorplätze für Konsumstätten, sondern Performance-Areale für Kunst und Kultur. Verwaltungs- und Bürogebäude sind nicht mehr nur „Sitzflächen“, sondern Kommunikations-Areale mit ästhetischen Ambitionen.
Kreative Städte inspirieren ihre Bewohner durch Vielfalt. Sie besetzen die Groß-Themen der kognitiven Gesellschaft: Design. Geist. Kunst. Sie bilden Orte der Begegnung, der Inspiration, die über sich selbst herausweisen. Sie sind Schmieden von Ideen. Und die Wiedereroberung der Städte durch das soziale Miteinander bringt den Aspekt Natur in einen völlig neuen Kontext. Viele Industrie- und Verkehrsflächen werden in den nächsten Jahrzehnten zu Arealen des gemischten Wohnens umgewidmet. Es entstehen Siedlungsformen, in denen Natur und Mensch eine neue Symbiose eingehen. Diese Städte sind dreimal so grün und vielmal so kulturell wie die alten Industrie-Metropolen. Sie entwickeln neue Varianten des Zusammenlebens, die eine Mischung aus städtischer Distanz und ländlicher Nähe bieten:
Urban Gardening: Der ökologische Wertewandel führt zu einem erhöhten Bedürfnis nach Naturerleben, das sich im Zuge der Gesundheitsdebatte auch auf die Nahrungsmittelproduktion erstreckt. Überall auf den Dächern der Großstädte entstehen nun Dachgärten, in denen Gemüse geerntet wird. An den Stadträndern entstehen „Shared Farming“-Projekte, in denen Nahrungsmittel für den Direktvertrieb in die Stadt produziert werden. Alte Kulturformen der Arbeiterklasse, wie die Schrebergärten, kehren in neuer Form zurück.
Co-Working: Aus alten Fabriken werden lebendige Gewerbehöfe für die Kreativen Industrien. In ihnen tun sich Einzelselbstständige, Start Ups, „Port folio-Worker“ zu neuen Produktivitäts- Netzwerken zusammen. Allein in Berlin existieren heute an die 20 Co-Working- Projekte.
Co-Housing: Im Zuge einer neuen kooperativen Architektur entstehen Vereine, Zusammenschlüsse von Bürgern, die ihre eigenen Bebauungspläne erstellen und dann als Genossenschaftler ihre eigenen Stadt-Areale gestalten. „Dörfer in der Stadt“ entstehen – „Grüne” Stadtviertel, wie das Vauban-Viertel in Freiburg oder das Französische Viertel in Tübingen, zeigen, dass die Geschichte des verdichteten Wohnbaus nicht zu Ende ist. Eine neue „Kommunalbewegung“ entsteht derzeit in vielen deutschen Städten, mit kooperativen Baugemeinschaften, die die Stadtarchitektur zunehmend ergrünen und „sozialisieren“ lässt. Verkehrsberuhigung, Biomärkte, Gemüseanbau auf den Dächern, eine regionale Nahrungsmittelversorgung, wohnnahe Büro- und Kinderbetreuungsangebote, Infrastrukturen für Alte und Behinderte, vereinen das Beste von Dorf und Metropole.
Städte auf der ganzen Welt wirken heute als Innovationsmotor für umweltbewussteres Leben. Los Angeles hat sich eines der ehrgeizigsten „Grünen Programme“ zur Aufgabe genommen. Ein riesiger Grüngürtel soll mit Hilfe zahlreicher Stadtteil-Gruppen aus den „Problemquartieren“ quer durch die Megapole geschlagen werden. 150.000 Straßenlaternen werden mit LEDs umgerüstet, Diesel-LKW im Stadtverkehr so gut wie verboten, 65 Prozent des Mülls in Zukunft recycelt. 1.050 der 1.200 Bürgermeister großer Städte in den USA haben sich der „Carbon-Initiative“ angeschlossen, nach der die CO2-Emissionen ihrer Städte unter das Niveau von 1990 zurückgeführt werden sollen.
Sao Paolo stellt seinen ganzen städtischen Fuhrpark auf Biotreibstoffe um. Sämtliche Gebäude mit mehr als drei Badezimmern müssen mit thermischen Solaranlagen ausgestattet werden. Leuchtreklamen wurden bereits 2007 verboten. Istanbul will mit radikalen Programmen seinen zunehmenden Energiehunger und sein Verkehrschaos bekämpfen, durch völlig neue grüne Stadtteile, Energiegewinnung aus dem Bosporus und massivem Ausbau der U-Bahn. In Stockholm legen heute die Einwohner 75 Prozent mehr Wege mit dem Fahrrad zurück. Kopenhagen will bis 2025 ganz ohne fossile Energieträger auskommen, und immer mehr Groß- und Mittelstädte nehmen ihre eigenen Energienetze wieder in die Hände, um sich von den zentralen Versorgungszwängen zu befreien.
Diese Einzelbeispiele sind jedoch nur Teil einer weitgehenden Ökologisierung der Stadt, die heute erst an ihrem Anfang steht.
Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von ZIA Zentraler Immobilien Ausschuss e.V.
Erstveröffentlichung: ZIA Geschäftsbericht 2013/2014