04.11.2020

Endlich handeln

Kommunen können Nutzungsmix steuern und galoppierende Grundstückspreise einfangen.

Reiner Reichel, Redakteur, The Property Post

In deutschen Großstädten fehlt Bauland. Das weiß auch Ceos-Chef Prof. Dr. Stephan Bone-Winkel. Trotzdem forderte er kürzlich in einem Interview mit „The Property Post“ (TPP) die Industrie zurück in die Innenstädte zu holen. Die Forderung ist schwer nachvollziehbar. Würden Fabriken in die Stadtkerne drängen, würde die preistreibende Konkurrenz um knappen Grund und Boden noch weiter angeheizt.

Doch: Ist die Forderung, Industrie zurück in die Stadt zu holen, wirklich so abwegig?
Nein! Erinnern wir uns: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert siedelten sich Fabrikarbeiter in Sichtweite ihrer Arbeitgeber an, wovon etwa im Ruhrgebiet zig Arbeitersiedlungen zeugen. Das geschah zwangsläufig, denn es gab keinen Nahverkehr, mit dem Arbeiter längere Strecken zwischen Wohnung und Arbeitsplatz hätten zurücklegen können. Der Arbeitsplatz musste zu Fuß erreichbar sein. Es blieb den Arbeiterfamilien nichts anderes übrig als von ihren Arbeitgebern verursachten Schmutz, Lärm und Schadstoffe auszuhalten.

Heute verursachen Industriebetriebe viel weniger Lärm und Schmutz und stoßen weniger Schadstoffe aus. Die Lebensqualität in unmittelbarer Nähe zu Produktionsbetrieben ist wesentlich höher als früher. Es gibt genügend Beispiele für das einvernehmliche Nebeneinander von Wohnen und Produzieren. Die Gläserne Manufaktur von VW in Dresden ist nur durch eine Straße von einem großen Mehrfamilienhausquartier getrennt. In Hamburg ist es sogar chic und teuer, mit Blick auf den Hafen und die Docks von Blohm + Voss zu wohnen.
Was wäre, wenn wir Waren nicht mehr in großen Fabriken außerhalb der Städte, sondern verteilt auf kleinere Hallen in verschiedenen Städten herstellen würden? Die Wege zu den Kunden wären kürzer, die Wege der Beschäftigten zu ihren Arbeitsstätten ebenfalls. Die Vorteile: weniger Verkehr, weniger Energiebedarf, weniger Schadstoffausstoß, geringerer Platzbedarf. Ja, der Flächenbedarf würde sinken. Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz zu Fuß oder nach wenigen Stationen mit Bus oder Bahn erreichen, sind eher zum Verzicht auf ihr Auto bereit. Es wird weniger Parkraum im Wohnumfeld benötigt und der Arbeitgeber ist nicht gezwungen, mit einem Firmenparkplatz Flächen zu versiegeln. Nimmt der Verkehr ab, kann zusätzlich Grund und Boden durch den Rückbau von Verkehrsflächen gewonnen werden. Die in der „Morgenstadt-Initiative“ der Fraunhofer Gesellschaft zusammenarbeitenden Wissenschaftler gehen noch weiter. Ihr Credo: Die Menschen sollen so viel wie möglich in der Stadt produzieren, in der sie leben, also auch Energie und Nahrungsmittel. Die Energie soll aus der Abfallverwertung gewonnen werden, ein Teil der Nahrungsmittel in Stadt- und Dachgärten wachsen.

Unvorstellbar? Nein! In den 1970er Jahren waren Fußgängerzonen für viele innerstädtische Einzelhändler unvorstellbar. Sie wehrten sich mit Händen und Füßen dagegen und prophezeiten ihre eigenen Pleiten. Heute vermisst wohl keiner der Skeptiker von damals den Autoverkehr in der Fußgängerzone.

„Es wird gebaut, was der Grundstückspreis hergibt, nicht was der Markt braucht“, behauptet Bone-Winkel im TPP-Interview. Wohnungen würden gebaut, weil andere Nutzungsarten bei den hohen Grundstückspreisen weniger Profit abwerfen. Etwas differenzierter betrachtet: Die deutschen Städte brauchen Wohnungen, aber nicht zu den hohen Preisen, die aufgrund der vielfach durch Spekulation verursachten horrenden Grundstückspreisen unvermeidlich sind.

Dabei ließen sich die galoppierenden Grundstückspreise einfangen. Wien, Ulm und Amsterdam. Ulm und Wien praktizieren das Bodenfonds-Modell. Amsterdam vergibt den Großteil seiner Grundstücke in Erbpacht. Beide Modelle dienen dazu, den Wohnraum in ihren prosperierenden Städten für breite Schichten bezahlbar zu halten. Aber das Modell ist nicht auf Wohnen beschränkt. Was gebaut wird, ist über das Baurecht steuerbar, ein Mix der Nutzungsarten somit möglich. Also ließe sich auch wieder Industrie in Innenstädten ansiedeln.
Die Kurzfassung des Bodenfonds-Prinzips: Der stadteigene Fonds bevorratet Grundstücke, mit dem Erlös für veräußerte Liegenschaften wird neuer Grund und Boden gekauft. Der Fonds verkauft nicht an den Meistbietenden, sondern verbindet Preiszugeständnisse mit Auflagen, etwa Mietobergrenzen. Je größer der Fonds, desto größer ist der Einfluss auf die Grundstückspreise der Gemeinde. In Ulm gehört der Stadt ein Drittel der Stadtfläche.

Mehrere deutsche Großstädte vergeben inzwischen große Teile ihrer Grundstücke nur noch per Erbpacht, darunter Frankfurt, München und Leipzig. Das Erbpacht-Modell hat gegenüber dem Bodenfonds-Modell den Vorteil, dass die Kommunen Eigentümerinnen der Grundstücke bleiben, also die Wertsteigerungen für sich verbuchen können. Auch Gemeinden, die diesen Weg gehen, kommen nicht umhin, Grundstücke nachzukaufen. Im Erbpacht-Modell kann über die Höhe der Erbpachtzinsen Einfluss auf die Nutzung genommen werden. Allerdings können auslaufende Verträge Erbpachtnehmer böse überraschen. Wenn der Grundstückswert stark steigt wie in Amsterdam geschehen, steigt die Erbpacht mit. Die Stadt reformierte ihre Verträge, nachdem die höheren Pachten viele Erbpachtnehmer in wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte.

Instrumente, die den Nutzungsmix steuern und die Immobilienpreise im Zaum halten, gibt es also. Bis sie greifen, wird es Jahre dauern. Das ist kein Grund auf ihre Anwendung zu verzichten. Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Die Kommunen müssen endlich den ersten Schritt gehen.

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von The Property Post
Erstveröffentlichung: The Property Post, November 2020

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