22.04.2015

Keimzelle des Zusammenlebens

Modelle für ein modernes Quartiersmanagement

Katja Weisker, Freie Journalistin und Kommunikationsberaterin,
Katja Weisker

Keine Frage, die Bedeutung des Quartiers quasi als Keimzelle des guten, nachbarschaftlichen Zusammenlebens hat in der öffentlichen Wahrnehmung der vergangenen zwei Jahre deutlich zugenommen. Das etwa vom Bund bereits 1999 aufgelegte Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ ist 2012 weiter entwickelt worden und heißt nunmehr „Soziale Stadt – Investitionen im Quartier“. Es soll in den Quartieren den sozialen Zusammenhalt und die Integration aller Bevölkerungsgruppen verbessern. „Heimat vor der Haustür“ soll es selbstverständlich auch für die derzeit knapp 17 Millionen Menschen über 65 Jahren geben. Und mehr als 22 Millionen werden es im Jahr 2030 sein. Nach einer aktuellen Studie, die die Prognos AG im Auftrag der KfW durchgeführt hat, sind allerdings bereits heute bis zu zwei MillionenWohnungen nicht oder unzureichend barrierearm. Die Prognos AG schätzt den Investitionsbedarf bis 2030 auf insgesamt bis zu 50 Milliarden Euro oder drei Milliarden Euro jährlich.

Haushalte entlasten

Aber das ist nur eine Seite der Medaille, denn gleichzeitig kann der altersgerechte Umbau vonWohnungen private und öffentliche Haushalte erheblich entlasten. Eine Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) imAuftrag des Bundesbauministeriums beziffert das Einsparpotenzial auf 5,2 Milliarden Euro pro Jahr. 2,2 Milliarden Euro davon entfielen auf private Haushalte und 3 Milliarden Euro auf die staatlichen Träger der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe.

Der altengerechte Umbau von Wohnungen verursacht zunächst einmal hohe Kosten für Mieter und Vermieter. Und dabei bleibt es nicht: Gleichzeitig müssen Kosten für die EnEV getragenwerden. Die Wohnungsbetriebskosten sind zudem seit 2000 um rund 20 Prozent gestiegen, die Stromkosten um 99 Prozent, die Kosten für andere Haushaltsenergie sogar um 112 Prozent. Beispiel Dresden, wo die durchschnittliche Kaltmiete bei rund fünf Euro pro Quadratmeter und Monat liegt: Die Modernisierung im Bestand verursacht durchschnittlichKosten von 1,50 Euro pro Quadratmeter für die Auflagen der EnEV und rund einen Euro für den altengerechten Umbau (nicht nach DIN 18040). Das entspricht einer Mieterhöhung von etwa 50 Prozent. Nach DIN 18040 neu gebauter Wohnraum kostet mindestens neun Euro pro Quadratmeter. Das werden sich nicht viele Mieter leisten können.

Grundlage für moderne Quartiersprojekte

Gefragt sind also kreative, weniger kostenintensive Modelle, die dem Wunsch derMenschen entgegenkommen, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben, egal ob sie alt sind oder mit einer Behinderung leben. Das „Bielefelder Modell“ bietet dafür einen guten Ansatz. Es stellt das Leben im Quartier in den Mittelpunkt und bietet Versorgungssicherheit ohne Betreuungspauschale. In der Praxis heißt das: In bestehenden Quartieren mit guter infrastruktureller Anbindung werden älterenMenschen oder Menschen mit Behinderung komfortable, generationengerechte Wohnungen angeboten. Hinzu kommt der Stützpunkt eines sozialen Dienstleisters, der den Bewohnern des Quartiers verschiedene Serviceleistungen zur Verfügung stellt, zum Beispiel Behandlungspflege im Bereich der ärztlich verordneten Anwendungen, Begleitung von Freizeit- und Kultur-Aktivitäten sowie Vermittlung von Hauswirtschafts- und Pflegediensten. Jeder zahlt nur die Dienstleistung, die er tatsächlich in Anspruch nimmt. EinWohncafé für gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten rundet das Angebot ab.

Nachbarschaftszentrum in Dresden-Leuben

Seit Anfang 2014 gibt es nach diesem Modell in Dresden-Leuben das Soziale Beratungs- und Nachbarschaftszentrum „Seblia“. Der Name steht für „Selbstbestimmtes Leben im Alter“. Das Fachpersonal stellt die Trägerwerk Soziale Dienste Sachsen GmbH (TWSD), finanziert wird das Projekt von der GAGFAH, unterstützt von der Stadt Dresden sowie dem Kuratorium Deutsche Altenhilfe. Das Angebot des Nachbarschaftszentrums ist vielfältig: Es reicht von Spiele- und Bastelnachmittagen über Besuche im Botanischen Garten bis hin zum Kegeln. Zweimal pro Woche ist Kaffeeklatsch, eine wichtige Möglichkeit zum Austausch, weiß Einrichtungsleiterin Sandra Jurisch: „Unsere Angebote sind bewusst niederschwellig. Die Menschen kommen bei einer Tasse Kaffee einfach leichter ins Gespräch.“ Inzwischen kümmern sich die vier Mitarbeiter des „Seblia“ pro Woche um rund 50 Gäste zwischen 70 und 90 Jahren – Tendenz steigend. Einige nutzen bereits regelmäßig die soziale Beratung und klären mit Sandra Jurisch Fragen der Wohnraumanpassung, der Pflegebedürftigkeit oder der Betreuung im Krankheitsfall.

Das Nachbarschaftszentrum gehört für viele der rund 2.500 Menschen, die im Einzugsgebiet von „Seblia“ leben, bereits zum Alltag. „Wir können im täglichen Leben helfen und unterstützen. Und dafür bekommen wir viel zurück“, berichtet Sandra Jurisch. Auch Helma Orosz, Oberbürgermeisterin von Dresden und stellvertretende Präsidentin des Deutschen Städtetags, lobt die hervorragende Zusammenarbeit der Beteiligten im Rahmen des Quartiersmanagements in Leuben. Auch der Mieterverein Dresden begleitet und unterstützt das Projekt: „Kennzeichen für das funktionierende Quartier ist die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren vor Ort. Kern des Quartiersansatzes ist ein Beratungsangebot für Menschen, die Unterstützung benötigen, und deren Angehörige und Freunde. Ziel ist es, ein Netzwerk für den einzelnen Menschen zu schaffen, im Rahmen dessen er im gewohnten Wohnumfeld verbleiben kann“, erläutert Peter Bartels, Vorsitzender des Mietervereins Dresden.

Vorteile für alle Beteiligten

Von dem Projekt nach dem „Bielefelder Modell“ profitieren alle Beteiligten gleichermaßen: Die Kommune wird voraussichtlich mittelfristig weniger Kosten für die Unterbringung in Altenheimen übernehmen müssen, da viele ältere Menschen länger ein selbstständiges Leben führen können. Das Wohnungsunternehmen kann Fluktuation und Leerstand senken. „Aber die wirtschaftliche ist nur eine Seite der Medaille“, erläutert der CEO der GAGFAH, Thomas Zinnöcker. „Für unsere langjährigen Mieter bedeutet das Angebot, dass sie einen lebenswerten Lebensabend in ihrer gewohnten Umgebung verbringen können, an der Seite von Nachbarn, die sie oft bereits seit Jahrzehnten kennen. Die Miete bleibt für sie bezahlbar. Das ist für uns auch eine Herzensangelegenheit.“

In das Quartier Leuben soll weiter investiert werden – wenn die Nachfrage es verlangt. So sollen in den kommenden Jahren altersgerechte Wohnungen entstehen und das Nachbarschaftszentrum zu einem Servicestützpunkt mit Versorgungssicherheit rund um die Uhr ausgebaut werden. Ohnehin ist ein langer Atem erforderlich, um ein Projekt wie Dresden-Leuben voranzubringen: Erfahrungen mit anderen Projekten dieser Art zeigen, dass es drei bis vier Jahre dauert, bis sich der soziale Dienstleister und seine Angebote etabliert haben. Zur Finanzierung eines Servicestützpunkts, der seinen Kunden Versorgungssicherheit rund umdieUhr anbieten kann, benötigt der soziale Dienstleister im Umkreis mindestens sechs bis sieben Patienten mit Pflegestufe 1. Ambulante Pflege braucht kurze Wege, um im Notfall schnell reagieren zu können. Beides erfordert eine dichte Besiedlung. In vielen Quartieren wird das beschriebene Modell funktionieren, denn die Gesellschaft wird in den nächsten Jahren vor allem in den Ballungszentren altern. Für Gebiete mit geringerer Besiedlung müssen andere Lösungen gefunden werden.

Weitere Ideen gefragt

Die Suche nach weiteren Modellen muss also weitergehen. Ein Projekt „Neue Wohnformen“ ist zurzeit noch regional auf Teilbereiche Nord­rhein-Westfalens beschränkt. Es bietet den Mietern intensive Beratungsleistung durch einen Kooperationsberater an. Auch hier ist der Ausgangspunkt der Überlegungen der Wunsch der meisten Menschen, trotz körperlicher und geistiger Einschränkungen möglichst lange selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden zu leben und sich sicher fühlen zu können. Kooperationspartner ist die Deutsche Gesellschaft für Seniorenberatung (DGS), die dieMieter kostenlos zuwichtigenThemen wie „Betreutes Wohnen in den eigenen vier Wänden“, „Hilfsmittel und Wohnraumanpassung“ oder „Notrufgerät mit 24-Stunden-Erreichbarkeit“ berät. Außerdemwird stationäre, teilstationäre und ambulante Betreuung vermittelt.

In Einzelfällen werden auch Wohnräume baulich angepasst, damit der Mieter seine Wohnung auch mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen nutzen kann. Dazu gehört zum Beispiel der Umbau des Badezimmers mit ebenerdiger Duschtasse oder die Errichtung einer abschließbaren Rollatoren-Abstellbox. Mittelfristig ist geplant, das Modell bundesweit auf den Gesamtbestand zu übertragen. Die Herausforderung ist erkannt. Dennoch verlangt der demografische Wandel weitere kreative Ideen sowohl der Wohnungsbranche, der sozialen Dienstleister als auch von der Politik.

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von GAGFAH GROUP
Erstveröffentlichung: Immobilienwirtschaft 10/2014