09.06.2015

Omnichannel-Intermediär

E-Commerce als Effizienztreiber für den stationären Ladeneinzelhandel

Prof. Dr. Rainer P. Lademann, Geschäftsführender Gesellschafter, Dr. Lademann & Partner Gesellschaft für Unternehmens- und Kommunalberatung mbH
Prof. Dr. Rainer P. Lademann

Wenn im Einzelhandel vom Wandel der Betriebsformen oder dem Wheel of Retailing die Rede ist, bewegt man sich vermeintlich auf sicherem Grund. Die Vorstellung, dass die Entwicklung der Betriebsformen der Gesetzmäßigkeit eines Lebenszyklus folgt, scheint einen plausiblen Zugang zur Erklärung des Wandels im Handel zu geben.

Es ist verführerisch, in einer vermeintlichen Gesetzmäßigkeit den Treibstoff für die Entstehung, den Aufstieg und den Niedergang von Betriebsformen des Einzelhandels zu sehen. Hilft uns die Lebenszyklustheorie womöglich auch dabei, die durch den E-Commerce angestoßenen Entwicklungen zu verstehen? Oder noch grundsätzlicher gefragt: Folgt der Strukturwandel im Einzelhandel tatsächlich einem antizipierbaren Muster, mit dem bereits heute ein Ende der ‚Online- Bedrohung‘ vorhergesagt werden kann?

Wheel of Retailing

Die Betriebsformentheorie geht davon aus, dass der Markteintritt neuer Einzelhandelsformate dadurch möglich wird, dass sie die Handelsleistung etablierter Erscheinungsformen effizienter erbringen und durch einen damit möglichen Preisvorteil Kunden gewinnen. Dies ermöglicht in der ersten Entwicklungsphase schnelle Umsatz- und Marktanteilszuwächse, die sich in einer zweiten Phase abschwächen, weil z.B. das Potenzial preissensibler Kunden ausgeschöpft ist oder sich der Wettbewerbsvorteil durch Anpassungsmaßnahmen der etablierten Wettbewerber verringert. In dieser Phase versuchen auch die Pioniere, durch trading up neue Kundengruppen zu erschließen, was ihren Vorsprung weiter abschmelzen lässt. Nach Erreichen einer Stagnationsphase beginnt der Niedergang der Betriebsform, der mit dem Marktaustritt endet.

Die Expansion der Discounter und Verbrauchermärkte, die Tante-Emma-Läden oder klassische Supermärkte verdrängt haben, oder der Vormarsch von Bekleidungsfilialisten und Fachmärkten, die mit dem Niedergang der Warenhäuser und klassischen Fachgeschäfte in Verbindung stehen, scheinen eine an einen Lebenszyklus gebundene Erklärung des Wandels im Einzelhandel zu bestätigen. Doch so einfach vollzieht sich der Strukturwandel im Einzelhandel nicht: Zum einen können die Innovatoren dem Grundprinzip ihrer neuen Formatidee treu bleiben und auf die Verwässerung ihrer Konzepte verzichten (z.B. Aldi). Zum anderen können die etablierten Wettbewerber ihre tradierten Handelsformate konzeptionell weiterentwickeln (z.B. Kaufhof), so dass ein Relaunch den Lebenszyklus verlängern kann.

Von einer Gesetzmäßigkeit mit einer strengen Abfolge von Phasen, die mit dem Marktaustritt enden, kann daher nicht ausgegangen werden. Selbst wenn irgendwann tatsächlich eine Betriebsform vom Markt verschwunden ist, lässt sich dieser Zeitpunkt allenfalls als Muster vorhersagen, da diese Entwicklungen von Managemententscheidungen abhängen.

Online-Einzelhandel als Betriebsform?

Für eine Prognose des Online-Einzelhandels kommen weitere Schwierigkeiten hinzu. So ist bereits unklar, ob der E-Commerce in all seinen Erscheinungsformen als (einheitliche) Betriebsform betrachtet werden kann. Die Pure Internet Player können zwar als direkte Wettbewerber des klassischen kataloggestützten Versandhandels gelten, der sich seinerseits immer mehr zum reinen Online-Anbieter entwickelt. Komplexer wird es aber bereits mit Blick auf den Aufschwung der Plattformenanbieter, die neben ihrer eigenen Einzelhandelstätigkeit als Vermittler für stationäre Einzelhändler oder andere Versandhändler fungieren. Wie aber sind stationäre Betriebsformen einzuordnen, die auch im Online-Business aktiv geworden sind, wie Hersteller, die neben eigenen Filialen auch online vertreiben oder Online-Händler, die inzwischen stationär filialisieren. Man könnte all diese hybriden Erscheinungsformen unter der Bezeichnung „funktionaler Multichannel- Einzelhandel“ (da auch Hersteller z.T. Einzelhandel betreiben) zusammenfassen, wenn nicht die technologische Entwicklung über Smartphones und Tablets (‚noline‘!) und eine Digitalisierung der Ladenflächen perspektivisch Omnichannel-Intermediäre als das Maß der Dinge erwarten lassen. Die technisch- organisatorische ‚Verschmelzung‘ der bislang noch getrennt geführten Verkaufskanäle scheint als ein wahrscheinliches Szenario.

Wenn sich der Einzelhandel in diese Richtung weiterentwickelt, wofür vieles spricht, dann ist die Trennung zwischen stationärem und Online-Einzelhandel nicht nur unzweckmäßig, sondern auch obsolet: ‚Noline‘-basierte Geschäftsmodelle, die gerade die Integration von stationärem Einzelhandel und E-Commerce ermöglichen können, blieben quasi ausgeklammert.

Umsatzprognosen für den Online-Einzelhandel?

Dieser Betrachtungswinkel hat unmittelbare Konsequenzen für die Prognosefähigkeit des B2C-Online-Business: Wenn dem Omnichannel-Einzelhandel die Zukunft gehört, wird der Einzelhandel insgesamt seinen differenzierten Vertriebsprozess in allen Kanälen auf dem Medium Internet aufbauen bzw. damit vernetzen. So beschaffen Verbraucher Informationen über das Internet, prüfen stationäre Produktverfügbarkeiten und kaufen dann offline, tauschen Erfahrungen über Produkte aus, oder bestellen stationär gesichtete Produkte nach einem Beratungsgespräch online oder noline. Omnichannel-Einzelhandel würde damit zum tragenden Effizienztreiber aller Betriebsformen. Er unterläge dann keinem eigenen Lebenszyklus, es sei denn, neue, ggf. noch effizientere Technologien verdrängten den E-Commerce. Dr. Lademann & Partner geht daher davon aus, dass einem mehr oder weniger digitalisierten stationären Einzelhandel neben den Plattformbetreibern wie Amazon oder eBay die Zukunft gehören wird.

Entsprechend unsinnig ist es, die heute nur schwer beobachtbaren bzw. geschätzten B2C-E-Commerce-Umsätze für die nächsten Jahre, geschweige denn – so die teils gelebte Praxis – bis 2030 mit einer Nachkommastelle scheingenau zu extrapolieren. Wenn bereits unklar ist, ob und inwieweit die Ausgangsbasis verlässlich geschätzt werden kann, wäre eine Fortschreibung der Umsätze nach dem Lebenszyklusmodell mehr als spekulativ.

So geht das Lebenszyklusmodell bis zur Stagnationsphase bzw. bis zum Beginn der Degenerationsphase von einem S-förmigen Verlauf der Wachstumskurve aus. In der in etwa linearen Phase des Wachstums würde man daher in der Praxis zwar abnehmende prozentuale, jedoch Jahr für Jahr in etwa konstante absolute Umsatzzuwächse erkennen. Ein Blick auf die vom BEVH beobachteten Umsätze (die auf Grundlage von Verbraucherbefragungen geschätzt werden) zeigt aber, dass der Umsatzverlauf online basierter Umsätze zwischen 2004 und 2015 am besten durch eine exponentielle Wachstumsfunktion abgebildet werden kann.

Die zunehmende Krümmung der Wachstumskurve ab etwa 2010 spräche eher dafür, dass die online (bzw. zunehmend noline) erwirtschafteten Umsätze die Stagnationsphase noch nicht erreicht haben. M.a.W.: Bis heute lässt sich kein Erlahmen der B2C-E-Commerce-Umsatzentwicklung erkennen. Bedenkt man auch, dass die auf das Smartphone rekurrierenden Marketing- und Vertriebstechnologien noch in den Kinderschuhen stecken und ihre Marktwirkung erst künftig voll entfalten werden, ist eine Fortsetzung des Internetbooms sogar wahrscheinlich. Diskussionen über Auswirkungen auf den Verkaufsflächenbedarf und die Mietkostentragfähigkeit des stationären Einzelhandels und auf benötigte Logistikflächen bleiben auf der Tagesordnung.

Fazit: Sicher bleibt nur die Prognose, dass der Wandel im Handel weiter geht.

Die Entwicklung der Online-Umsätze hängt nicht zuletzt davon ab, wann stationäre Einzelhandelsformate bereits vorhandene oder in Vorbereitung befindliche, ladengeeignete digitale Technologien rentabel einsetzen können. In diesem Fall könnte die Digitalisierung zu kundennäheren und effizienteren Verkaufsprozessen im Einzelhandel führen. Ein ‚Durchmarsch‘ von Pure Internet Playern oder Online-Plattformanbietern ist angesichts der technologischen Dynamik und der damit korrespondierenden Verschiebungen der Marktanteile nicht wahrscheinlich. Insofern können Umsatzentwicklungen des stationären und des Online-Einzelhandels nicht seriös mit einem Lebenszyklusmodell vorhergesagt werden. Sicher bleibt nur die Prognose, dass der Wandel im Handel weiter geht. Er wird mit den neuen Technologien eher noch forciert werden. Wer sich allerdings diesen Herausforderungen verschließt, muss letztlich damit rechnen, aus dem Wettbewerb auszuscheiden.

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von ZIA Zentraler Immobilien Ausschuss e.V.
Erstveröffentlichung: ZIA Geschäftsbericht 2014/2015