19.07.2021

Flucht und Vertreibung

Großstadtwohnungen sind für Familien zu teuer. Ihr Wegzug dämpft den Preisdruck nicht.

Reiner Reichel, Redakteur, The Property Post

Wo wollen Menschen leben, wenn die Covid-19-Pandemie ausklingt? Eine Frage, die zurzeit Städteplaner und Wohnungswirtschaft beschäftigt. Zwei einfache Antworten.

Antwort eins: Auf dem Land, denn eine Lehre aus der Pandemie ist, dass die Ansteckungsgefahr durch Viren in Städten aufgrund der größeren Nähe der Menschen zueinander größer ist. Auf dem Land sind die Gesundheitsrisiken geringer, zumal Virologen vor weiteren Pandemien warnen. Auf dem Land ist die Bewegungsfreiheit größer. Und: Wer ohnehin nicht mehr jeden Tag im Büro arbeiten muss, ist eher bereit den Zeitverlust durch das Pendeln zum Arbeitsplatz an zwei, drei Tagen in der Woche zu akzeptieren.
Antwort zwei: Die Attraktivität der Städte ist weiterhin unschlagbar. Kurze Wege zum Einkaufen, ins Kino, Theater, Museum, Fitnessstudio, zum Club. Der Zuzug hält an, auch wenn die Zuzugsstatistiken der Metropolen im Moment dies nicht spiegeln. Aber eben nur im Moment.

Doch: Schon die Frage ist zu einfach. Sie sollte lauten: Wer will wo leben?

Das sind die Antworten: Für Singles und Paare, die deutlich mehr als den Mindestlohn verdienen oder über überdurchschnittliche Alterseinkünfte verfügen, sind Großstädte auch weiterhin unglaublich attraktiv. Dieser Personenkreis kann das breite Kultur- und Freizeitangebot ohne Einschränkungen nutzen und sich über kurze Wege zu Einzelhändlern und Ärzten freuen. Diese Gruppe zahlt – wenn auch murrend – die hohen und weiterhin steigenden Mieten und Preise für Wohnraum. Wenn diese Menschen mehr als ein Drittel des Haushaltseinkommens für Wohnkosten aufwenden müssen, bleibt ihnen immer noch genügend Geld, um gut zu leben. Sie haben die Wahl.

Singles und Paare, die wenig verdienen und täglich am Arbeitsplatz erscheinen müssen, haben keine Wahl. Sie müssen sich in der Großstadt mit Wohnraum niedriger Qualität bescheiden und zusätzlich jeden Cent dreimal umdrehen.

Großstadt-Familien haben aus der Pandemie gelernt, dass ihre Wohnungen zu klein sind, um darin zu arbeiten und gleichzeitig Kinder zu betreuen. Und der Umzug in eine größere Großstadtwohnung, ob zur Miete oder ins Eigentum, dürfte selbst für die meisten Haushalte mit überdurchschnittlichem Einkommen nicht bezahlbar sein. Ohnehin lauten die mieterfreundlichen Prognosen, dass die Mieten weniger schnell steigen als in der Vergangenheit. Die weniger freundlichen Prognosen deuten auf Miet- und Preissprünge hin. Die verfügbaren Haushaltseinkommen werden so oder so kaum Schritt halten. Diese Entwicklung macht Haushalte mit geringen Einkommen zu Empfängern von Transferleistungen und vertreibt etwas besser gestellte Familien aus Großstädten. Aber wohin? Aufs Land? Wenn mit Land Dörfer gemeint sind, in denen sich die Verbindung zur nächsten Stadt auf zwei Busverbindungen am Tag beschränkt, dann ganz sicher nicht. Kino, Theater und Clubs fehlen Eltern nicht. Doch ohne Kitas, Schulen und schnelles Internet und einen halbwegs passablen Anschluss an den Nahverkehr kommen sie nicht aus.

Diese Familien fliehen nicht aufs Land, sondern in die benachbarte Kleinstadt oder ins wenig ländliche Umland. Sie gehen an Orte, von denen aus mehrfach täglich Regional- und/oder S-Bahnen zu großen oder mittelgroßen Städten fahren, die Kitas und Schulen für Ihre Kinder bieten und über schnelles Internet verfügen. Ein Trend, der nicht neu ist, was sich an den über die Jahre gestiegenen Single-Haushaltsquoten der Metropolen ablesen lässt. Gut möglich, dass dieser Trend durch die Pandemie einen zusätzlichen Schub erhält. Jedenfalls verzeichneten viele Randgemeinden in den vergangenen Jahren ein relativ gesehen viel höheres Bevölkerungswachstum als die Metropolen in ihrer Mitte. Die, die jetzt auf diesen Trend aufspringen, werden jedoch ernüchternd feststellen, dass Mieten und Preise in der Peripherie gewaltig angezogen haben und sie weitere Erhöhungen auslösen.

Wenn die Bevölkerungszuwächse in den Metropolen stagnieren oder gar ausbleiben, ist das womöglich Folge eines banalen statistischen Effekts. Um den Wegzug einer vierköpfigen Familie zu kompensieren, müssen vier Singles zuziehen. Auch der Druck auf Mieten und Preise in den Großstädten wird durch den Zuzug von Einpersonenhaushalten nicht geringer, sondern eher größer. Schließlich verbrauchen vier Singles mehr knappen Wohnraum als eine vierköpfige Familie. 

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von The Property Post
Erstveröffentlichung: Juli 2021

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Reiner Reichel, Jahrgang 1956, war viele Jahre Immobilienredaktuer des Handelsblatts. Journalismus betreibt er, wie er Fußball spielt: hart aber fair.

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