29.03.2022

Soziale Taxonomie befördert Inklusion

Sarah Kocabiyik, Associate Partner, UNDKRAUSS Bauaktiengesellschaft
Sarah Kocabiyik

Die ESG-Richtlinien der EU sollen dafür sorgen, dass mehr Kapital in nachhaltige Investitionen fließen. Dabei wird das Verständnis von Nachhaltigkeit in drei Dimensionen aufgefächert: Ökologie, Soziales und Governance. Bezogen auf den Immobiliensektor wird bei der ökologischen Nachhaltigkeit (E) größtenteils auf die Reduzierung des CO2-Ausstoßes beim Bau und während des Betriebs einer Immobilie fokussiert. Im Bereich des Sozialen (S) geht die Bedeutung von ESG über das Wohlbefinden von Nutzerinnen und Nutzer hinaus und umfasst auch Themen wie Gleichberechtigung, Inklusion und die Einhaltung von Menschenrechten. Governance umfasst vornehmlich Managementstrukturen und Mitarbeiterbeziehungen bis hin zur Vergütungsregelung für Mitarbeiter und Vorstände.

Im Februar hat die „Platform on Sustainable Finance“ ihren Abschlussbericht mit Vorschlägen für konkrete Kriterien und Ziele der sozialen Taxonomie veröffentlicht. Diese sollen dazu dienen, Menschenrechte verwirklichen zu können und beruhen auf internationalen, maßgeblichen Normen, wie sie beispielsweise in der UN-Charta für Menschenrechte festgeschrieben sind. Die drei im Rahmen des Abschlussbericht formulierten Oberziele streben an, eine angemessene Arbeitssituation, einen angemessenen Lebensstandard und das Wohlbefinden für Nutzer und Konsumenten sowie eine inklusive und nachhaltige Gemeinschaft und Gesellschaft zu gewährleisten.

Insbesondere das letztgenannte Ziel soll Menschen unabhängig von körperlichen oder sonstigen Einschränkungen eine vollständige Teilhabe an unserer Gesellschaft ermöglichen. Im Baubereich kann dies beispielsweise durch Barrierefreiheit für Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen erreicht werden. Im öffentlichen Raum und vor allem in öffentlichen Gebäuden ist dies bereits verbindlicher Standard. Durch die soziale Taxonomie sollen auch die Bauherren im privaten Sektor stärker auf die Bedürfnisse dieser Gruppen eingehen, und ihre Projekte beispielsweise zu einem größeren Teil barrierefrei gestalten, planen und bauen.

Im Wohnsegment ist der Bau von Wohnungen mit Ausstattungen, die speziell auf Menschen mit körperlichen Einschränkungen ausgerichtet sind und gegebenenfalls durch veränderbare Grundrisse situativ angepasst werden können, eine gute Möglichkeit, die Ziele der sozialen Taxonomie zu verfolgen. Im Einzelhandel kann dies anhand eines großzügigen Platzangebots, leichter Zugänglichkeit, einer ergonomischen Gestaltung, heller Beleuchtung und einer klaren Orientierung erfolgen. Und im Bereich der Büroimmobilien hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Mitarbeiterzufriedenheit, -kreativität und -produktivität steigen, wenn Teams divers zusammengesetzt sind. Dazu ist es notwendig, dass Büroräume großzügig, abwechslungsreich und barrierefrei gestaltet sind.

Die Inklusion körperlich eingeschränkter Menschen lässt sich in den meisten Fällen mit Mindestbreiten, Maximalhöhen, Schwellenfreiheit, Aufzügen und anderen baulichen Maßnahmen sicherstellen. Die gestalterischen Lösungen von Architekten und Planern sind gleichzeitig mittlerweile so ansprechend und vielfältig, dass Barrierefreiheit nicht mehr mit Krankenhausatmosphäre gleichgesetzt werden muss.

Inklusion beschränkt sich allerdings nicht nur auf körperliche Einschränkungen, sondern umfasst auch die Teilhabe von Menschen mit fremder Herkunft, anderen kulturellen Gepflogenheiten, besonderer sexueller Orientierung oder geschlechtsspezifischen Bedürfnissen.

Eine Architektur, die die Teilhabe dieser Gruppen im Fokus hat, muss sich nicht ausschließlich an Maß und Zahl, sondern auch an den subjektiven und sozialen Wirkungen ihrer gestalterischen Lösungen ausrichten. So können beispielsweise freie Sichtachsen, eine gute Einsehbarkeit und Ausleuchtung dem Sicherheitsbedürfnis von Frauen entgegenkommen. Ein Innenausbau, der häufigen Blickkontakt, zufällige persönliche Begegnungen und Smalltalks unterstützt, verringert Berührungsängste.

Sozial inklusive Architektur und Planung ist eher eine psychologische als eine bautechnische Herausforderung. Sie findet breite Unterstützung und ähnlich wie einst bei der Barrierefreiheit ist es nicht Absicht, sondern meist Gedankenlosigkeit, die sozialer Inklusion im Wege steht. Durch eine enge Orientierung an den Nutzern und ihren Bedürfnissen bereits bei der Planung gelingt es, diese Gedankenlosigkeit zu vermeiden.

 

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von UNDKRAUSS Bauaktiengesellschaft
Erstveröffentlichung: zukunftundkrauss.com, März 2022

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