21.08.2018

Urbanität in Neubaugebieten schaffen

Von der horizontalen und vertikalen Nutzungsmischung

Susanne Trösser, Geschäftsführerin, RIS Rheinischer Immobilienservice GmbH in Leverkusen
Susanne Trösser

Derzeit fordern viele Menschen in Ballungsregionen mehr Wohnraum. Sie werden von Bund, Ländern und Kommunen vielfach erhört, die bemüht sind, die Neubauquote anzukurbeln. Letztlich werden mit einer beherzten Wohnungsbaupolitik Wahlen gewonnen. Dabei führt die hohe Wohnungsnachfrage in Ballungsregionen dazu, dass neben Innenstadtverdichtungen auch komplett neue Stadtteile geplant werden. Leider schießen die Planer bei großen Wohnprojekten manchmal über das Ziel hinaus und drohen die Fehler der sechziger und siebziger Jahre zu wiederholen. Seinerzeit entstanden schlecht angebundene Hochhaussiedlungen, teils viele Kilometer von den Kernstädten entfernt, die sich in der Folge zu sozialen Brennpunkten entwickelten.

Auch ein zweiter Fehler muss vermieden werden, nämlich, dass neue Siedlungen ausschließlich mit Wohnnutzungen geplant werden. Nur wenn Orte und Freiräume für Begegnung entstehen, wenn Menschen in den Quartieren auch arbeiten und Schulen, Geschäfte, Freizeitmöglichkeiten und Dienstleistungen existieren, sind sie tagsüber belebt und langfristig attraktiv.

In manchen deutschen Städten werden derzeit neue Stadtteile am Reißbrett entworfen, in denen einmal viele tausend Bürger leben sollen. Dies ist eine neue Qualität der Entwicklung und hat es so in den zurückliegenden Jahren kaum gegeben. In Freiburg im Breisgau soll der neue Stadtteil Dietenbach auf der grünen Wiese mit mehr als 5.000 Wohnungen entstehen. In Frankfurt am Main sollen im Nordwesten zu beiden Seiten der Autobahn A5 auf ehemaligen Ackerflächen etwa 12.000 Wohnungen gebaut werden. In Mönchengladbach entsteht im Zentrum in den nächsten Jahren der Stadtteil „Seestadt“. Auf 14 Hektar sollen etwa 200.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche gebaut werden samt einem Hochhaus. Zur Erinnerung: Noch vor zehn Jahren wurde in Städten wie Leipzig ein starker Bevölkerungsrückgang prognostiziert: Daraufhin wurden im Stadtkern Einfamilienhäuser gebaut, um den Bewohnern Freiräume wie am Stadtrand zu geben. Eine Maßnahme, die heute undenkbar wäre.

Großprojekte dieser Art bieten Chancen, dem Bevölkerungsdruck entgegenzuwirken und mit politischen Leitplanken sozialen sowie bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Aber sie sind auch mit der Herausforderung verbunden, bei aller Dichte und Fokussierung auf Wohnungsbau die Aufenthaltsqualität nicht hintenan stehen zu lassen. Für viele Kommunen, Bauträger und Architekten ist dies ein Spagat. Einerseits haben fast alle Wachstumsstädte Programme aufgelegt, die bei größeren Projekten eine gewisse Quote an öffentlich finanzierten beziehungsweise preisgedämpften Wohnungen vorsehen. Diese müssen die Entwickler, andererseits, neben ihren frei finanzierten Wohnungen bauen und einpreisen. Beim Konzentrieren auf Wohnungsneubau geraten manchmal andere Nutzungsarten aus dem Blickfeld. Das gilt gerade bei großen Projekten, wo angrenzende Stadtviertel die fehlende Infrastruktur im Neubaugebiet nicht auffangen können.

So ist es kein Wunder, dass bei ersten Projekten nachjustiert werden musste, wie etwa beim Stadtentwicklungsprojekt in Wien-Aspern. Anfangs wurde es zum Großteil als Wohnstandort entwickelt. Zwischenzeitlich wurde die Notbremse gezogen und die Planung dahingehend verändert, dass bei neuen Maßnahmen im Osten der Stadt neben Wohnraum zusätzlich Gewerbe- und Büroflächen sowie Raum für kulturelle Nutzungen entstehen. Hier sollen bis zum Jahr 2028 an einem künstlichen See etwa 10.500 Wohnungen errichtet werden. Außerdem sollen Flächen für 15.000 Büroarbeitsplätze sowie 5.000 Arbeitsplätze in Gewerbe, Wissenschaft, Forschung und Bildung entstehen. Urbanität bedeutet neben einem Nebeneinander verschiedener, stadttypischer Nutzungen (Büro, Handel, Wohnen, Freizeit, Kultur etc.) außerdem eine gewisse Dichte einerseits an Gebäuden und andererseits eine soziale Dichte, weil die Men-schen enger aufeinander leben als in ländlichen Gebieten. Dies hat zur Folge, dass die Gestaltung des öffentlichen Raumes, wo sich die Menschen bewegen und begegnen, wichtiger wird.

Urbanes Gebiet auch in neuen Stadtteilen diskutieren
Es mag auf den ersten Blick seltsam wirken, aber neue Stadtteile sollten vor dem Hintergrund des Nutzungsmixes als Mischgebiete oder gar als Urbanes Gebiet deklariert werden. Dieser neue Begriff, der im Mai 2017 in die Baunutzungsverordnung Eingang fand, ermöglicht es unter anderem, dass in direkter Nachbarschaft von Wohnungen einfache Gewerbebetriebe, Büros und Hotels errichtet werden dürfen und die Lärmemissionen etwas höher sein dürfen als in Kern- und Wohngebieten.  Modernes produzierendes Gewerbe ist fast durchweg mit weniger Lärm und Abgasen verbunden. Zeitgemäße Kleinbetriebe, die etwa Fahrräder reparieren, Marmeladen herstellen oder Bier brauen, vertragen sich in der Regel mit Wohnnachbarn.

Außerdem gibt es neue Baumaterialien für Schallschutz und zum Absorbieren von Erschütterungen, die in modernen Gewerbebetrieben schon heute zum Einsatz kommen. In Berlin wurde beispielsweise nahe der Eventhalle Columbia Wohnungsneubau errichtet. Zwischen beiden Nutzungen wurden als Gebäuderiegel mehrere Gewerbebetriebe angesiedelt, darunter eine Schreinerei. In der Werkstatt wurden schallschluckende Materialien verbaut, die den Maschinenlärm dämpfen. Die Praxis zeigt, dass Konflikte zwischen Wohn- und Gewerbenutzungen selten bei Neuansiedlungen auftreten, wenn im Vorfeld die Nachbarn einbezogen werden und ihre Argumente ernst genommen werden.

Vertikale Mischung durch Hybridimmobilien
Verschiedene Nutzungen lassen sich nicht nur auf einem Gelände, sondern auch in Gebäuden selbst realisieren, in sogenannten Hybridimmobilien. Das heißt, in einem Hochhaus kann im Sockel ein Café, eine Reinigung, ein Imbiss oder eine andere Nutzungsart für Passanten sein, während in den Stockwerken darüber Büros, Praxen und in den oberen Etagen Wohnungen vorgesehen werden. Discounter wie Aldi planen in Innenstädten neue Märkte, so dass im Erdgeschoss der Markt, in den oberen Geschossen Wohnungen entstehen. Die Grundstücke werden besser genutzt, der Konzern wird zum Wohnungsvermieter. Alleine in Berlin will Aldi-Nord bis 2030 über 2.000 Wohnungen errichten. In Stuttgart wurden die oberen Etagen von zwei Einkaufszentren mit knapp 500 Wohneinheiten bebaut. Wichtig ist dabei, die Zufahrten für den Anlieferverkehr zu regeln: Können etwa die Lkw so ihre Ware anliefern, dass sie nicht rückwärts an das Gebäude fahren müssen und dabei automatisch das laute Rückfahr-Warngeräusch auslösen, ist vielen Wohnnachbarn geholfen.

Das vermutlich bekannteste Hybridgebäude ist im Übrigen die Elbphilharmonie in Hamburg. Neben Konzertsälen, Proberäumen etc. finden sich in dem Gebäude 45 Eigentumswohnungen, ein Hotel mit 244 Zimmern sowie ein Parkhaus, Restaurants, eine Bar und mit der „Plaza“ sogar eine öffentliche Aussichtsplattform auf 37 Metern Höhe. Wohnaufstockungen sind auch bei Parkhäusern denkbar. In den zurückliegenden Jahren wurden in einigen Städten auf bestehende Garagen Wohnungen gebaut. Zu den Wohnungen gehören separate Eingänge, eigene Parkplätze für Autos und Fahrräder und ein „Müllkeller“ in einem oberen Stockwerk. Dies ist natürlich auch in Neubauquartieren bei neu geplanten Parkhäusern denkbar. Während Pkw-Fahrer lieber in den unteren Etagen parken und ungern in die oberen Stockwerke fahren, sind zum Wohnen gerade höhergelegene Etagen gefragt.

Natürlich sollte der Nutzungsmix durchdacht sein. Gebäude an einer Hauptverkehrsstraße, die durch das Quartier führt, könnten für Hotels oder Büros vorgesehen werden, die als Riegel für die dahinterliegende Wohnbebauung dienen. Entsteht – wie etwa auf dem ehemaligen Bahnausbesserungswerk im Leverkusener Stadtteil – ein neuer Ableger der Kölner Fachhochschule, dann sollten auf dem Gelände auch Studentenwohnungen mitgeplant werden.

Gleiche Fehler auch bei Bau von Büro-Monostrukturen gemacht
Ähnliche Fehler wurden im Übrigen auch im Bürobereich gemacht. In Frankfurt am Main entstand im Stadtteil Niederrad ein reines Büroquartier, ebenso in Düsseldorf „Am Seestern“, um nur zwei zu nennen: Fehlende Wohnungen, kaum Einkaufs- und Gastronomieangebote kennzeichneten diese Quartiere. Hinzu kommt im Falle Frankfurts, dass in der Innenstadt sowie am Flughafen zahlreiche neue, modernere Bürogebäude entstanden. Mit voller Wucht schlug das Konzept der „Bürostadt Niederrad“ negativ durch, als in Folge der Finanzkrise in der Mainmetropole vor acht Jahren über zwei Mio. Quadratmeter Bürofläche leer standen. Damals waren über ein Drittel der Niederrader Flächen vakant.

In der Folge wurde das Quartier um andere Nutzungsformen ergänzt, wie Hotels, Einzelhandels- und Freizeitflächen – aber vor allem Wohnungen. Seit 2014 sind über 4.000 Wohnungen in Planung beziehungsweise fertiggestellt. Im Sommer 2017 wurde das 144 Hektar große Gebiet von „Bürostadt Niederrad“ in „Lyoner Quartier“ umbenannt, um den Wandel auch im Namen zu dokumentieren. Der neue Begriff geht darauf zurück, dass viele Gebäude an der Lyoner Straße liegen und einige neue Projekte mit diesem Begriff spielen. Sie heißen beispielsweise „Living Lyon“, „LY 30“ oder „Lyoner Carrée“. Der Zeitpunkt für die Umnutzung war auch deshalb gut, weil viele Bürogebäude der 1960er bis 1980er Jahre vor einer Sanierung standen. Ihr Umbau in möblierte Studentenappartements sowie Eigentums- und Mietwohnungen ging einher mit der Schaffung von mehr Frei- und Grünflächen, dem Bau von Kindertagesstätten und Einkaufsmöglichkeiten. Dabei werden die Bürogebäude in Niederrad ebenso wie in Düsseldorf Am Seestern oft als Hybridimmobilien umgestaltet.

Fazit: Hybridimmobilien sind ein probates Mittel, um Nutzungsmischungen in Bestands- und Neubauquartieren zu ermöglichen. Oft hinken die Pläne und ursprünglichen Baugenehmigungen den Entwicklungen hinterher. Der Markt benötigt dann oft andere (preisgedämpfte) Wohnformen oder eine andere Balance zwischen Büro- und Wohnungsbau. Man sollte daher als Entwickler und Kommune darüber nachdenken, ob nicht bewusst „Optionsräume“ in die Planungen Eingang finden. Die Frage, ob diese Baufelder wohnungswirtschaftlich oder anders genutzt werden, wird erst im zweiten Schritt, bei der Erstellung des Bebauungsplanes, festgelegt. Denn letztlich sind die meisten Masterpläne und Vorentwürfe schon mehr als zehn Jahre alt, bevor die ersten Bagger rollen – und damit nicht mehr auf der Höhe der Zeit, was die Nutzerbedürfnisse angeht.

 

Die Nutzungsrechte wurden The Property Post zur Verfügung gestellt von vhw - Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V.
Erstveröffentlichung: vhw Forum Wohnen und Stadtentwicklung 3 / Mai – Juni 2018

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